Der aktuelle Klimawandel aus Sicht der Inuit
Der folgende Bericht stammt von Caitlyn Baikie, einer 20 Jahre alten Inuit aus Nain im Norden Kanadas. Caitlyn studiert Geografie an der Memorial Universität in Neufundland und ist mit Robert Way befreundet, der diesen Artikel für sie auf Skeptical Science veröffentlicht hat.
Mein Name ist Caitlyn Baikie. Ich bin eine 20 Jahre alte Inuk aus Nain in Nunatsiavut, und ich habe dort mein ganzes Leben verbracht. In der Sprache Inuktitut bedeutet Nunatsiavut "unser schönes Land", und was für ein schönes Land es ist. Genau wie Nunavut ist Nunatsiavut ein von den Inuit selbstverwaltetes Territorium innerhalb der Provinzen Neufundland und Labrador in Kanada. Nain ist die nördlichste Gemeinde an der Küste und hat ungefähr 1200 Einwohner, von den denen 90% Inuit sind.
Abbildung 1: Geografische Lage von Nain, Labrador (56.5°N)
Mein Leben in Nain unterscheidet sich sehr stark vom Leben in der Stadt. Nain ist eine sehr isoliert liegende Gemeinde. Es gibt keine Straßen von und nach Nain. Man kann dort nur mit dem Flugzeug oder Boot hinkommen und im Winter auch nur mit dem Flugzeug oder Schneemobil. Auch wenn unsere Werktage durch Schule und Arbeit bestimmt sind, so sind unsere Aktivitäten in der Freizeit und zum Lebensunterhalt doch sehr verschieden. Im Winter gehen wir auf Jagd nach Kleintieren wie Feldhühner, die es überall um den Ort herum gibt. An den Wochenenden fahren wir oft mit den Schneemobilen aufs Eis hinaus zu unseren Hütten in der Nähe unserer Jagdgründe. Dort jagen wir Robben, Karibus, Ukialik (Schneehasen) und Zugvögel. Dies ist die Zeit, in der wir den Großteil unserer Fleischvorräte für den Rest des Jahres anlegen. Für uns ist stabiles Meereis sehr wichtig, da es uns Fortbewegung und Jagd ermöglicht, normalerweise 6 Monate lang. Die Menschen in Nain und an der Nordküste werden oft Sikimiut genannt, Menschen des Meereises.
Abbildung 2: Zustand des Meereises im Norden Labradors, Foto von Gary Baikie von Parks Canada.
Inuit sind sehr stark vom Meereis abhängig, auch um zu anderen, nahe gelegenen Gemeinden zu gelangen. Die beiden letzten Jahre waren allerdings nicht gut für das Meereis - es dauerte bis Mitte Januar, bevor die ersten Leute mit ihren Schneemobilen losziehen konnten. Dies ist sehr spät, vor allem wenn man bedenkt, dass wir es gewohnt sind, zu diesem Zeitpunkt bereits auf diesen Strecken unterwegs gewesen zu sein, und auch unsere Gefriertruhen bereits mit frisch erlegtem Karibu gefüllt zu haben. Wir haben uns alle gefragt, ob diese Jahre einfach nur "Ausreißer" waren. Wie lange kann man aber annehmen, dass es nur "Ausreißer" und nicht ein Teil eines größeren Ganzen ist? Wir mussten im Sommer Niederschläge, wochenlange Nebelperioden und niedrige Temperaturen aushalten, anstatt Sonne und warme Temperaturen. Der Sommer geht nahtlos in den Herbst über, ohne die üblichen Kälte und gefrorene Böden. In einem extremen Jahr, 2010, fing der Winter mit etwas Schneefall vielversprechend an. Aber dann ging auch das in wochenlangen Regen über. Die Temperaturen bewegten sich um den Gefrierpunkt herum, obwohl es normalerweise mindestens -10°C oder darunter hätten sein müssen. Es gibt keine einzelnen ungewöhnlichen Ereignisse im Monat mehr, sondern viel mehr eine Veränderung des Klimas von Jahreszeit zu Jahreszeit.
Abbildung 3: Temperaturabweichungen im Winter im nördlichen Nordamerika - Environment Canada im Rahmen einer Nachrichtensendung 2010
Den Stammesältesten fällt dies ganz besonders auf. Ihr Wissen über unser Land und sein Klima hat sie und unser Volk über Jahrzehnte hinweg überleben lassen und es macht mir Angst, wenn ich daran denke, dass sie so ein Jahr wie 2010 noch nie erlebt haben. Sie wissen, dass sich unser Klima verändert, weil sie hier seit vielen Generationen leben und es gibt von den früheren Generationen keine Überlieferungen von Jahren wie diesem. Unsere Stammesältesten wissen aus Erfahrung, das sich unser Klima verändert; Wissenschaftler haben Daten, die belegen, dass sich unser Klima verändert (Way, R. and Viau, A.E., Causes of climate variability in the Labrador region of Canada during the past century, eingereicht).
2009 hatte ich die Möglichkeit, mit Teams von Wissenschaftlern zusammen zu arbeiten, die das Klima im Torngat Mountains Nationalpark, nördlich von Nain, untersuchten. Viele der Stammesältesten, die ich kenne, sind aus dieser Gegend. Wir haben das Wissen unserer Ältesten und der Wissenschaftler genutzt, um Daten zum Permafrost, den Nahrungsketten im Meer, der Vegation, den Gletschern und vielen anderen Dingen zu sammeln. Die Ergebnisse dieser Projekte zeigen, dass der Park eine schnelle Veränderung des Klimas hin zu wärmeren Bedingungen erlebt - Gletscher schmelzen, die Vegation wächst sehr schnell, Festland-Ökosysteme sind stark betroffen. Viele an diesen Untersuchungen beteiligte Universitäten haben Beratungsprogramme gestartet, um uns dabei zu helfen, uns auf die möglichen Konsequenzen dieser Veränderungen im Hinblick sowohl auf unser Wissen über das Land als auch unsere Kultur vorzubereiten.
Abbildung 4: Inuitjäger im Torngat Mountain Nationalpark nördlich von Nain
Die Inuit haben diese Informationen bereits seit Jahrhunderten gesammelt und ihr Wissen an die jüngeren Generationen weitergegeben. Ein Freund von mir, einer der Ältesten von Nunatsiavut, hat mir vor kurzem einen Brief geschrieben, in dem er mir von einem Jagdausflug zusammen mit meinem Onkel im letzten Jahr erzählte und was sie dabei beobachteten.
"Wir waren nach einem Jagd- und Sammeltrip auf dem Weg von Nutak - dem Heimatort Deiner Großmutter - und gingen an Land, um Beeren zu sammeln. In der Gegend sahen wir einen kleinen Teich, der Ende September trotz eines sehr nassen Sommers ausgetrocknet war."
Mein Onkel wusste aus Erfahrung und durch das an ihn weiter gegebene Wissen, dass dieser sumpfige Teich sonst nie trocken fiel, und dass es sogar immer ein guter Teich für die Jagd auf Wildgänse und Schwarzenten war. Der Permafrostboden unter dem Teich war aufgetaut, weshalb das Wasser nicht mehr gestaut werden konnte - solche Beobachtungen wurden auch von anderen Inuitjägern überall im nördlichen Labrador gemacht.
Es gibt so viel Wissenswertes, was von den Ältesten aus ihren Geschichten und ihrem Wissen über unser Land gewonnen werden kann, und ich respektiere sie sehr. Ich habe nicht nur von der wissenschaftlichen Sichtweise aus viel gelernt, sondern auch Abende im Park zusammen mit den Ältesten verbracht, die ihre Geschichten über unser Land mit uns teilten. Sie erzählten von Kindheitserinnerungen und wie es war, hier aufzuwachsen und wie das Wetter ihre Exisitenz und ihre Fähigkeit zu überleben beeinflusste. Die Ältesten zeigten auf den Landkarten ihre traditionellen Jagdgebiete und andere wiesen darauf hin, wie sich einige dieser Routen im Laufe der Zeit verändert haben.
Als Gruppe ist den Ältesten aufgefallen, dass es nicht mehr so viel Schneefall wie früher gibt. Sie sagen, dass nicht mehr annähernd so viel Schnee fällt, wie in der Zeit, als sie noch jung waren. Die Ältesten haben auch bemerkt, dass mehr Eisbären weiter südlich gesichtet werden. Dies ist sehr ungewöhnlich und liegt wahrscheinlich an fehlenden Eisschollen während der Sommermonate, was den Eisbären keine Alternative lässt, als an Land zu gehen wo Menschen leben. Außergewöhnliche Eisbedingungen haben auch in unseren Gemeinden zu Tragödien geführt. Leben gingen verloren, weil die Eis- und Schneebedeckung unberechenbarer geworden ist. Vor einigen Jahren starben zwei erfahrene Inuitjäger als sie auf einer ihnen wohlvertrauten Route unterwegs waren.
Abbildung 5: Spätes Zufrieren, das im Herbst/Winter 2011-2012 beobachtet wurde
Als Inuit ist unser Leben mit der Natur verbunden und wir haben deshalb einen großen Respekt vor Mutter Erde. Das Land, das Meer und sein Klima definieren unsere Kultur, und unsere Kultur wird sich bedingt durch die gerade stattfindenden Änderungen für immer verändern.
Ich bin hier nicht als Experte für den Klimawandel hergekommen, sondern als Person, die aus erster Hand miterlebt, wie Menschen in all ihren Lebenslagen durch das Klima beeinflusst werden. Ich konnte erkennen, dass das traditionelle Wissen der Inuit wissenschaftliche Untersuchungen untermauert und es ist wunderbar, ein Teil dieser gemeinsamen Anstrengungen zu sein. Die Inuit tragen insgesamt nicht viel zu den Faktoren bei, die den Klimawandel verursachen. Wir gehören jedoch zu den am meisten davon Betroffenen. Es ist für mich ein Privileg, dass ich meine Geschichte erzählen durfte und dass ich von den Untersuchungen und Erfahrungen anderer lernen konnte. Vielen Dank. Nakummek.
Abbildung 6: Eisbär auf dem Eis in Küstennähe im Norden Labradors.
Nachtrag: Die außergewöhnliche Natur der aktuellen Klimaveränderungen in Labrador sind Gegenstand von Forschungen der Universität in Ottawa und der Memorial Universität in Neufundland. Die Forscher befasssen sich sowohl mit den physikalischen als auch den sozialen Aspekten dieser Veränderungen.
Translation by BaerbelW. View original English version.